
HIT: Informationsmanagement im Fokus
Bei der Nutzung von Health Information Technology (HIT) in der Versorgung von Patienten und Patientinnen mit Krebs treten immer wieder Patientensicherheitsprobleme auf. Deshalb hat Patientensicherheit Schweiz diesem Thema ein Projekt gewidmet.
Hintergrund
Hintergrund dieses Projekts ist der verstärkte Einsatz von Informationstechnologie (Health information technology, HIT) in der Versorgung von Patientinnen und Patienten in der Onkologie. Dies ist verbunden mit der Hoffnung, patientenbezogene Informationen besser zu managen: beispielsweise die Diagnosen, die komplexen Behandlungsschemata oder die Krankengeschichten. Die Informationen müssen jedoch optimal gepflegt, zugänglich und aktuell sein, um der Patientensicherheit zu dienen.
Ziel
Obwohl IT-Systeme die Arbeit im Gesundheitswesen erleichtern sollen, unterstützen sie die eigentlichen Arbeitsabläufe oft nicht, sondern behindern diese sogar. Laut dem Report des ECRI-Instituts 2016 ist die schlechte Abstimmung von Arbeitsprozessen und HIT-Design eines der Top-10-Themen der Patientensicherheit. Daher hat die Stiftung ein Projekt konzipiert mit dem Ziel, jene Risiken für die Patientensicherheit zu identifizieren, die durch die mangelnde Abstimmung von Arbeitsabläufen und der Gestaltung der IT-Systeme entstehen.
Projektstruktur
Durch Interview- und Beobachtungsmethoden werden Probleme der Patientensicherheit systematisch identifiziert und in einem weiteren Schritt analysiert. Der Fokus liegt darauf, wie patienten- und behandlungsrelevante Informationen während des Besuchs eines Patienten in einem onkologischen Ambulatorium abgebildet werden. Dabei stehen die folgenden Risiken im Vordergrund:
- Informationen gehen verloren und sind nicht vorhanden, wenn sie gebraucht werden;
- wichtige Information muss gesucht oder wiederhergestellt werden;
- falsche Information dient als Grundlage für wichtige Entscheidungen.
Problem Doppelspurigkeit
Ein Beispiel für ein Patientensicherheitsproblem ist die Tatsache, dass Ärzte häufig ein anderes HIT-System nutzen als die Pflegefachpersonen. Das bedeutet, dass entweder alle patientenrelevanten Informationen der Pflegefachpersonen zweifach geführt werden, oder dass sie für Ärzte nicht zugänglich sind. Ein anderes Beispiel ist, dass die Spitalapotheke für die Produktion der Chemotherapie häufig ein anderes IT-System nutzt: Wenn es keine Schnittstelle gibt zwischen dem HIT, das die Verordnung beinhaltet, und dem HIT der Spitalapotheke, muss die gesamte Patienteninformation manuell übertragen werden. Dies macht gefährliche Übertragungsfehler möglich. Die Ergebnisse des Projekts werden dazu beitragen, Hot spots für Verbesserungen der Patientensicherheit in Bezug auf Informationstechnologie zu erkennen und den Handlungsbedarf aufzuzeigen. Das Projekt wird im Rahmen des Programms zur Stärkung der onkologischen Versorgungsforschung durch die Krebsforschung Schweiz gefördert.
Interview: «Der Tod von Digital Health sind Lücken im System»
Elektronische Patientendossiers und Digitalisierung im Gesundheitswesen
Prof. Dr. David Schwappach, wissenschaftlicher Leiter von Patientensicherheit Schweiz, erklärt die Risiken und Chancen der technologischen Entwicklung im Gesundheitswesen und äussert sich pointiert zum elektronischen Patientendossier.
Wie schätzen Sie den Nutzen der digitalen Patientenakte ein?
Prof. Dr. David Schwappach: Das elektronische Dossier ist aus Sicht der Patientensicherheit grundsätzlich eine grosse Chance. So hilft es zum Beispiel, das wichtige Thema der Medikationssicherheit in den Griff zu bekommen.
Können Sie ein Beispiel geben?
Ein Hausarzt hat eine ältere multimorbide Patientin, die zehn unterschiedliche Medikamente erhält. Kein Mensch kann alle möglichen Interaktionen zwischen diesen Arzneimitteln im Kopf behalten. Eine benutzerfreundliche IT-Software kann problemlos aufzeigen, welche Sicherheitsrisiken eine solche Medikation bedeuten kann. Trotzdem braucht es natürlich weiterhin die Fachexpertise des Arztes oder der Ärztin: Denn sie sind in der Regel die Vertrauenspersonen der Patienten, sie gewichten die gesammelten Daten und wägen die Chancen und Risiken ab – das kann kein digitales System leisten.
Wo sehen Sie Probleme bei der digitalen Krankenakte?
Es wäre wünschenswert, wenn sämtliche Leistungserbringer im schweizerischen Gesundheitssystem das elektronische Patientendossier einsetzen würden. Die Realität ist jedoch eine andere: Die elektronische Akte wird über längere Zeit parallel zum bisherigen Papierdossier verlaufen. Das hat eine grosse Unsicherheit zulasten der Patienten und ihrer Sicherheit zur Folge. Ein digitales System ist ein grosser Gewinn, ein schlechtes digitales System mit Datenlücken ein grosses Risiko.
Ein weiteres Defizit entsteht, wenn das digitale Tool nicht benutzerfreundlich ist. Nehmen wir das Beispiel von vorhin: Der betagten Patientin wird ein elftes Medikament verschrieben. Dabei entstehen neue Interaktionen. Diese werden jedoch nicht speziell ausgewiesen im Dossier, sondern automatisch zuunterst auf der bisherigen Liste mit den Interaktionen hinzugefügt. Für den Arzt bedeutet dies, dass er die ganze Liste durchgehen muss, um neue Interaktion zu erkennen – das ist äusserst unpraktisch. Wir wissen aus einer Studie unter Schweizer Hausärzten und Medizinischen Praxisassistenten (MPA), dass die Themen elektronischer Interaktionen-Check, Medikationsliste und das Management von externen und internen Informationen zentrale Hotspots der Patientensicherheit in diesem Setting sind. Das sagen die Ärztinnen und Ärzte und MPAs selber, sie sind oft besorgt darüber.
Dann: Die digitale Krankenakte verändert die Arbeitsweise in der Praxis oder im Spital und zwar auch kulturell: Wenn ich zur Ärztin gehe, liegt meine Akte nicht mehr auf dem Tisch, sondern die Ärztin sitzt vielleicht hinter dem Bildschirm. Das empfinden manche Patienten als unangenehm und viele Ärzte fühlen sich auch unwohl damit, weil sie dies als Trennung erleben.
Welchen Hürden orten Sie bei der teilweise weit fortgeschrittenen Digitalisierung in den Spitälern?
Oft sind die neuen Arbeitsprozesse und -instrumente noch zu wenig anwenderorientiert. Man gibt zwar die Patientendaten in den Computer ein und handelt gemäss spitalinterner elektronischer Verordnungen. Aber die Mitarbeitenden stöhnen, weil die digitalen Systeme nicht ihre Bedürfnisse abdecken und die Arbeitsprozesse nicht widerspiegeln.
Weshalb ist das so?
Es hapert mit der Kommunikation zwischen dem Spital einerseits und dem externen Software-Entwickler andererseits. Leider haben selbst die grossen Universitätsspitäler oft zu wenig eigene IT-Ressourcen. Da sie zudem meist alleine handeln und nicht im Verbund, können sie zu wenig Druck auf die externen Anbieter ausüben, damit diese benutzergerechte IT-Lösungen entwickeln. Würden sämtliche Spitäler in der Schweiz zusammenspannen, wäre man ein starker Businesspartner. Stattdessen erarbeitet man eigene Lösungen, das schadet der Sicherheit der Patienten.
Der Tod von Digital Health sind Lücken im System. Dem gegenüber sind Schnittstellen im Alltag von Gesundheitsarbeitenden Normalität: Spitäler, Heime oder Haus- und Kinderarztpraxen sind mit vielen verschiedenen Stellen im Kontakt, von der Apotheke über die Fachärztin bis zur Spitex. Es ist nicht einfach, diese vielen ineinander verwobenen Workflows während der Behandlung in einem digitalen Produkt oder einer Dienstleistung abzubilden. Doch die Lösung liegt auf der Hand: Bei der Entwicklung einer elektronischen Arbeitshilfe muss man jene aufsuchen und mit jenen reden, die anschliessend damit arbeiten sollen.
Was unternimmt die Stiftung Patientensicherheit Schweiz, um den Wissenstransfer hinsichtlich digitaler Arbeitsinstrumente zu stärken?
Im Bereich der Forschung und Entwicklung erfassen wir aktuell Patientensicherheitsprobleme bei der Nutzung von Informationstechnologien in der Versorgung von Krebspatienten. Dabei untersuchen wir auch, welche Sicherheitslücken bei der Anwendung von Health Information Technology (HIT) entstehen. Eine Erkenntnis ist: Lücken entstehen nicht durch die Digitalisierung an sich, sondern durch Tools, die ihren Zweck im Berufsalltag von Gesundheitsarbeitenden nicht erfüllen.
In Grossbritannien, wo seit 40 Jahren der National Health Service zur Anwendung kommt, ist das elektronische Patientendossier längst eine Realität. Was können wir daraus für die Schweiz lernen?
In jedem Land hat das nationale Gesundheitssystem natürlich seine eigenen Probleme und Tücken. Interessant ist, dass das Vereinigte Königreich vor rund 15 Jahren eine grosse Offensive startete zur Verbesserung der Qualität und Sicherheit in der medizinischen und pflegerischen Grundversorgung und dabei vor allem einen Milliardenbetrag in die IT-Technologie im ambulanten Bereich investierte. Dies hat dazu geführt, dass heute jede Hausarztpraxis mit demselben digitalen System arbeitet. Mit anderen Worten: Es gibt keine Varianz oder Systeme, die nicht miteinander kompatibel sind oder in die man sich zuerst einarbeiten muss. Sondern es gibt eine einzige Patientenakte, in der alles drin steht. Das hat in Bezug auf die Patientensicherheit ganz klar Vorteile.
Aus Patientensicht gibt es letztlich keine Garantie, dass meine persönlichen Daten absolut vertraulich bleiben.
Ich gebe Ihnen recht: Ganz allgemein wird die Frage des Personendatenschutzes völlig unterschätzt in unserer Gesellschaft. Die Sorge um den Datenschutz ist sehr wichtig und ich verstehe die grosse Skepsis. Wenn die Menschen nicht mehr zum Arzt gehen – aus Angst, gewisse Informationen würden ihnen später zum Nachteil gereichen, beim Arbeitgeber, bei der Sozialversicherung oder bei der Bank –, dann kann dies zu einer grossen Problematik für die Patientensicherheit werden. Seltsam ist nur: Während wir bei der Krankenakte grosse Vorbehalte haben, teilen wir uns bei Google und auf Facebook freizügig mit. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass unsere Daten gesichert sind. Aber eben: Das Hauptproblem ist nicht das digitale System an sich, sondern, wenn es unentschlossen ist und nicht flächendeckend angewandt wird.
Was muss geschehen, damit digitale Lösungen die Patientensicherheit stützen oder gar erhöhen?
Es braucht eine viel engere Zusammenarbeit zwischen den Fachleuten, von der Allgemeinpraktikerin über den Qualitätsmanager im Spital bis zum externen Software-Entwickler. In diese Richtung wird bereits gearbeitet. So hat zum Beispiel die Fachhochschule in Biel ein Living Lab entwickelt, ein Labor, in dem Studierende und Entwickler neue Technologien in einer realitätsnahen Umgebung ausprobieren und verbessern können.
Technisch ist sehr viel möglich. Die Kunst liegt darin, es in die Anforderungen und Prozesse der medizinischen Versorgung zu integrieren. Insgesamt stecken wir in der Schweiz diesbezüglich noch in den Kinderschuhen. Das Ganze ist ja auch sehr komplex. Ich bin mir sicher: Im Zusammenspiel des Digitalen mit der direkten, persönlichen Behandlung von Patientinnen und Patienten liegt das Forschungsfeld der Zukunft für eine nachhaltige Patientensicherheit.
Warum soll eine Hausärztin oder ein Pädiater das elektronische Patientendossier einführen?
Weil es eine wesentliche Arbeitshilfe sein kann, um die eigenen Informationen sowie den Informationsaustausch mit anderen Fachleuten und -instanzen in der oftmals komplexen «Versorgungskette» von Patienten in eine systematische und strukturierte Form zu bringen. Im besten Fall agiert der Hausarzt auch als Informationsmanager. Beherrscht er das digitale System, ist es vermutlich auch für ihn von grossem Nutzen.
Interview: Anna Wegelin, Leiterin Kommunikation Patientensicherheit Schweiz
Informationen zum elektronischen Patientendossier (EPD), das alle Schweizer Spitäler bis 2020 und Pflegeheime und Geburtshäuser einführen müssen unter www.e-health-suisse.ch
Krebsliga zu Forschungsprojekt HIT
Das Projekt wurde seitens der Stiftung von Dr. Yvonne Pfeiffer geleitet.
Bitte wenden Sie sich an das Sekretariat
info @patientensicherheit. ch